SAMMLUNG PRINZHORN: Wölfli, Grieshaber, Lohse-Wächtler, Bender - Die Sammlung wächst 

Ob die Sammlung Prinzhorn weiterhin sammelt, fragen viele. Mancher sucht dabei nach einer Bleibe für Bilder und Objekte, die er selbst hütet: Werke von Menschen, die psychische Krisen durchlebt haben. In den Besitz durch Erwerb, Geschenk, Erbschaft oder zufälligen Fund gelangt, möchte er sie abgeben, weil sie seinen Kunstgeschmack verfehlen, der Platz nicht reicht oder der konservatorische Erhalt aufwendig ist. Zugleich möchte er sie gesichert wissen. Selten geht es bei der Übergabe an das Museum um Prestige oder Geld. Oft schenkt man oder gibt Dauerleihen. Trotz Raumnot und knapper Ressourcen nimmt die Sammlung Werke an, sofern sie Konventionen überschreiten, doch stets mit der Bitte um Hinweise auf die Entstehung und die Lebensgeschichte der Autorinnen und Autoren.  

Ein Beispiel: In Frankfurt am Main stirbt 2006 eine Achtzigjährige. Trotz einer Pflegerin ist ihre kleine Wohnung zugewuchert, eines der überfüllten Zimmer unbetretbar. Zwei Neffen sind die Erben, denken aber an eine Räumungsfirma. Dennoch melden sie sich in der Sammlung Prinzhorn: Die künstlerisch ausgebildete Tante hatte ihr Leben lang gemalt und gezeichnet – abseits, ohne öffentlichen Erfolg. Seit den 1970er Jahren benahm sie sich zunehmend sonderlich, später wurde sie als „schizophren“ diagnostiziert.Ein Ortstermin macht deutlich, dass hier einem eigenwilligen Lebenswerk die Vernichtung droht. Wir beschließen, eine erhebliche Anzahl ausgewählter Werke in Heidelberg zu sichern. Die dankbaren Erben ordnen Fotos und Papiere und verfassen eine Biographie. Damit ist eine Grundlage geschaffen zum Erforschen von Leben und Werk Gudrun Bierskis (1925-2006).  

Schon in den 1980er Jahren, als man die Sammlung mit großem Aufwand vor Verfall und Vergessen rettete, wurde sie erweitert. Dabei handelt es sich um viele Werke, die das Œuvre von Künstlern der Sammlung ergänzen, aufgestöbert in Krankenakten bei biographischen Recherchen in deutschen Klinikarchiven. Seit 2001 das Museum eröffnet ist, kommen vermehrt Anfragen der geschilderten Art, da es weltweit nur wenige Institutionen gibt, die Werken der so genannten Outsider Art Platz geben. Die Ausstellung gibt Einblick in das Wachsen der Sammlung Prinzhorn, das in jüngster Zeit atemberaubend ist. Zum historischen Fundus (1880-1935), der in sich geschlossen ist, gibt es Kontinuitäten. Bis heute entstehen an den Rändern unserer Gesellschaft künstlerische Werke, die provozierend anders sind als das, was in Galerien und Museen üblicherweise gezeigt wird, Werke, die uns von seelischer Traumatisierung und gesellschaftlicher Ausgrenzung berichten – eine schöpferisch reiche visuelle Gegenkultur.  

 

Verwaiste Werke 

Zuweilen werden Werke wie Findelkinder der Sammlung Prinzhorn übergeben, namenlos, ohne Dokumente oder Erinnerungen, die über die Urheber und die Umstände des Entstehens berichten.

Diese Vitrine zeigt solche Bilder. Der Leiter einer Klinik glaubte, wie leider viele seiner Kollegen, ‚typische’ Bilder seien interessant ‚genug’. In der Gewissheit der Wissenschaft zu dienen, übergab er 2001 großzügig der Sammlung einen Umschlag

Tatsächlich sind kontextlose Bilder und Texte ein Bärendienst! Immerhin können wir die Gouache eines Behelmten dem Künstler Paul Goesch (1885-1940) zuschreiben, der in der Sammlung Prinzhorn vertreten ist. Der Künstler und Architekt  gehörte nach dem Ersten Weltkrieg zum Kreis der „Gläsernen Kette“ um Bruno Taut. Seit 1921 war er nahezu dauerhaft hospitalisiert. Die Nazis ermordeten ihn 1940 beim „Euthanasie“-Feldzug gegen Anstaltsinsassen.

 

Aus dem Müllcontainer gefischt 

Spätestens seit Hans Prinzhorns Buch „Bildnerei der Geisteskranken“ (1922) ist unter Psychiatern bekannt, dass manche Anstaltsinsassen Werke von künstlerischem Rang schaffen. Trotzdem fielen bis in die 80er Jahre in psychiatrischen Einrichtungen Zeichnungen und anderes von Patienten Selbstgefertigtes immer wieder dem Regime von Ordnung und Hygiene zum Opfer. Erst mit Erwachen des Kunstmarktes für so genannte Outsider Art begann man aufmerksam zu werden.

In den 70er Jahren barg ein Pfleger der Anstalt Weinsberg achtlos entsorgte Zeichnungen aus dem hauseigenen Müllcontainer; 2004 schenkte er sie der Sammlung Prinzhorn. Es sind Blätter und Kartonstreifen mit zumeist karikaturistischen Darstellungen und Aufschriften. Der Urheber zeichnete einige Werke „Cora Spaßvogel“. Kürzlich sind weitere seiner Zeichnungen von Weinsberg an das Staatsarchiv in Ludwigsburg gegeben worden.

 Bilderberg aus Merxhausen 

1985 übergab die Künstlerin Gisela Petschner der Sammlung rund 8000 Bilder vonPatientinnen und Patienten der hessischen Anstalt Merxhausen Sie hatte dort von 1963 bis 1983 ein freies Malatelier anbieten dürfen. Der gewaltige Fundus (die Sammlung Prinzhorn umfasst etwa 5000 Werke), bis heute unkatalogisiert und unbearbeitet, verrät auf den ersten Blick wenig von seiner Entstehungszeit an der Schnittstelle zwischen Bewahranstalt alten Stils und Psychiatriereform. Die LangzeitpatientInnen malten farbkräftige Bilder mit breitem Pinsel und Gouachefarben auf uniformen großen Bögen Tapetenpapier, darunter unzählige leuchtende Landschaften und Stillleben, Klecksbilder auf nassen Grund, Collagen aus gerissenem Buntpapier und Schwungkritzelkompositionen mit hineinphantasierten Gestalten. Petschner bot Techniken an zum Überwinden von Anfangshemmungen. Obwohl die Künstlerin auf der Suche nach authentischen Bildäußerungen war und Einflussnahme vermeiden wollte, sind fast alle Werke letztlich für sie gemacht. Sie spiegeln ihr Angebot und ihre Vorlieben. Nur wenige Teilnehmer der regelmäßigen Stunden konnten sich der unbewussten Direktiven entziehen und Originelles schaffen.  

 

Porträts aus Zwischenreichen 

Gott Siva sprach mit Margarethe Held (1894-1981), zeigte sich aber nicht, sondern forderte sie auf zu zeichnen. Von ihm geführt begann sie 1950 ihr Werk: Gnomen, Faune, Elfen – auch solche „für die Wissenschaft“ oder „die Arbeit“ –, Naturgötter, Zwitter, Dämonen, Gestorbene – aufgeteilt in Gute und Böse. Manche zeichnete sie in wenigen Minuten mit Bleistift, für leuchtend farbige Pastelle brauchte sie etwas länger. Beischriften erläutern die Geistwesen, deren Gesichtszüge den eigenen ähnlich sind.

Das System des gut geordneten Zwischenreichs Uneingeweihten zu offenbaren, wurde ihre Lebensaufgabe.

Held hatte mediale Fähigkeiten. Seit dem traumatisch erlebten Tod ihres Mannes – er war 1925 wie ihr Vater an einer Fleischvergiftung gestorben – nahm sie über eine „Sprechtafel“ Kontakt mit ihm auf.

Die mediumistische Malerin steht in einer einst belächelten, heute illustren Künstlerreihe. Medial Begabte, die abrupt zu malen begannen, im Namen eines Anderen, sind: Heinrich Nüßlein, Augustin Lesage, Hilma af Klint.

 

Die Sammlung Prinzhorn erwarb mit Unterstützung der Klinik zwölf Blätter von Margarethe Held.

 

Bilderverkäuferin 

Maria Fumsgid hat seit den 1980er Jahren in Frankfurt am Main eigene Bilder zum Verkauf angeboten. Die schweigsame ältere Frau kam über Jahre regelmäßig in bestimmte Lokale und verlangte nur wenige Mark oder Euro für ihre Zeichnungen. Mit Filzstift, Pastell, Ölkreiden oder Kugelschreiber fast durchweg auf DinA4 Schreibpapier ausgeführt, halten sie einige wenige Motive in immer neuen Varianten fest: weibliche und männliche Gesichter mit exotischen Zügen, Blumen, Obststillleben sowie Landschaften, durch die unbestimmbare Tiere ziehen.

Ein Frankfurter Galerist kaufte Fumsgid über die Jahre viele Blätter ab. Nachdem er früher schon einige der Collection de l’art brut in Lausanne gegeben hatte, schenkte er 2006 die übrigen teils an die Sammlung Prinzhorn, teils an die Heidelberger Sammlung Hassbecker.

Heute wird Fumsgid nur noch selten in Frankfurt gesehen. Wo sie wohnt, weiß keiner.  

 

Linienvirtuose

 

Wolfgang Koch (1916-1988), geboren in Wittingen als Sohn eines Apothekers und „Freizeitmalers“, studierte zwischen 1932 und 1959 Kunst in Basel, Berlin und Pforzheim, wo er sich niederließ. Den Weltkrieg hatte er als zeichnender Kriegsberichterstatter an der Front überlebt. In den 50er und 60er Jahren erhielt er Auszeichnungen und Preise – mit expressiv abstrakten Bildern, deren Titel oft auf Ängste verweisen. Anregungen erhielt er auf Reisen, vor allem nach Spanien, dessen Landschaft und Gesellschaft ihn künstlerisch beschäftigte.

 

1969 suchteKoch-Wittingen einen Nervenarzt auf. Er fühlte sich überwacht und fürchtete, von Nachbarn vergiftet zu werden. Seither war er häufig in ambulanter oder stationärer psychiatrischer Behandlung, oft wegen Suizidgefahr. Mal war er hoch gestimmt, malte, zeichnete und dichtete rauschhaft, dann wieder bedrückt und müde, auch als Folge der Medikation.

In seiner Malerei hellte sich die Palette auf. Zeichnerisch konzentrierte er sich auf das Entwickeln von Formen aus einer Linie, mit Feder oder Filzstift –  im Streben nach dem Virtuosentum Picassos, dem er sich verwandt fühlte. Nach 1980 entglitt ihm das Leben. In einem Pforzheimer Altenheim zeichnete er bis zu seinem Tod.

Koch-Wittingen gilt als wichtiger Künstler Pforzheims. Ein Konvolut seiner Spätwerke, von Zeitgenossen als „weniger gehaltvoll“ und ein „Versinken in die Krankheit“ bewertet, bewahrte sein Nervenarzt. Er schenkte sie 1998 der Sammlung Prinzhorn.  

 

Häkelskulptur 

Alfred Stief (*1952) arbeitete zuletzt als Sandstrahler, bevor er Mitte der 80er Jahre dauerhaft in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen wurde. 1992 lernte ihn die Künstlerin Susanne Lüftner in der Klinik Lippstadt-Benninghausen kennen, wo sie mehrere Patienten betreute. Als Kind hatte Stief einer Tante beim Häkeln zugesehen; jetzt begann er mit dieser Technik Tiere, Pflanzen, Menschen, Häuser, Fahrzeuge und Gebrauchsdinge aus Bindfaden, Wolle und Draht zu formen. Er häkelt zudem Bildteppiche und malt und collagiert Bilder aus Draht, Wachs, Erde, Wolle und Haaren, mit Märchenthemen und autobiographischen Szenen. Eingestreute, eigenwillig geformte Zahlen und Schriftelemente formulieren verschlüsselte Botschaften, Hilferufe, Beschwörungen, Warnungen.

Lüftner unterstützt Stief, sammelte seine Werke und vertritt ihn in ihrer „Kunst-Praxis Galerie“ in Soest. Sie sorgte dafür, dass er in den letzten Jahren auf vielen Gruppenausstellungen mit Outsider Art und Art Brut vertreten war. 2005 schenkte sie der Sammlung Prinzhorn die gehäkelte Arm-Skulptur. 

 

Zwei Meisterwerke 

Von Adolf Wölfli (1864-1930), dem heute bekanntesten und auf dem Kunstmarkt begehrtesten Outsider-Künstler, besitzt die Sammlung seit Prinzhorns Zeiten fünf farbige Zeichnungen. Es sind „Brotblätter“, die der Insasse der Berner Anstalt Waldau zum Verkauf herstellte. Prinzhorn selbst besaß zwei große Bleistift-Zeichnungen Wölflis auf Makulaturpapier. Bei seinem Fortgang aus Heidelberg 1922 übergab er sie dem befreundeten Kunsthistoriker Wilhelm Fraenger. 2006 lieh sie das Potsdamer Fraenger-Archiv der Sammlung bis auf weiteres. Jahrzehntelang in Fraengers Arbeitszimmer Licht und Tabakrauch ausgesetzt, waren sie stark vergilbt. Wir zeigen die Werke zum ersten Mal nach sorgfältiger Restaurierung. 

Die beiden Zeichnungen gehören zu der frühesten erhaltenen Werkgruppe Wölflis. Alle davon sonst bekannten 49 Blätter sind im Besitz der Berner Wölfli-Stiftung. „Ramonion=Schlange und Nigger“ ist 1904 entstanden, „Braut-Ring“ aus dem Jahre 1905 ist Teil einer vierteiligen Folge,„Ieremias Gotthelf von Lützelflüeh“. Schon in diesen Frühwerken kommt das charakteristische Vokabular Wölflis nahezu vollständig zum Einsatz: „Glöggli“, „Schneggli“, „Vögeli“, „Musikfässli“ und Texte umwuchern Architekturen und wenige Menschendarstellungen. Eine komplexe Komposition in mehreren „Etagen“ bändigt den „horror vacui“.  

 

Dem Wahnsinn ein Gesicht geben 

Georg Dillis (1759-1841) ist in die Kunstgeschichte eingegangen als Professor für Landschaftsmalerei an der Akademie der bildenden Künste in München und als „Central-Galleriedirector“ Ludwigs I. Zur Zeit der französischen Revolution, als er noch seinen Unterhalt mit Zeichenstunden für Adelige verdiente, stand er den Republikanern nahe und setzte sich in seiner Kunst intensiv mit einfachen Landesbewohnern auseinander. Für seine Porträts von Vertretern der unteren Schichten suchte er sogar das Armenhaus der Stadt auf, in dem damals auch Menschen in psychischer Not verwahrt wurden. Bislang sind drei Bildnisse Dillis’ solcher „Wahnsinniger“ bekannt. Zwei befinden sich im Münchner Lenbachhaus; das hier erstmals ausgestellte dritte konnte die Sammlung Prinzhorn 2006 aus Privatbesitz erwerben.

Dillis zeichnet 1799 einfühlsam einen jungen Mann, der sich nicht für das Porträtieren in Pose setzt, allzu sehr beschäftigt mit einem unkenntlichen Gegenstand in seinen Händen. Solche intensive Aufmerksamkeit, die der Betrachter nicht nachvollziehen kann, verbindet die drei „Wahnsinnigen“ Dillis’. Dagegen vermeidet der Zeichner alle vor und nach ihm üblichen Typisierungen Verrückter, wie schreckensweit aufgerissene Augen, starre Haltung, „irres“ Grinsen etc. Die Blätter sind bildnerische Zeugnisse einer ungewöhnlich menschlichen Begegnung mit Marginalisierten seiner Zeit.  

 

Hitler und andere Heilige 

Als Wolfgang Küppers 1983 während eines Praktikums im St. Petrusheim in Weeze zum ersten Mal Theo Wagemann (1918-1998) traf, begegnete er einem ungepflegten, wortkargen Sonderling, der von langen Wanderungen Dosen, Krondeckel, Plastikteile und anderes Fortgeworfene mitbrachte und sortierte und seine Zeichnungen gefaltet in einer Schachtel verbarg. Denn die Pfleger respektierten zwar viele Marotten des Langzeitpatienten, seine künstlerischen Arbeiten aber warfen sie weg.

Wagemann war als Gastwirtssohn in einem Dorf bei Aachen aufgewachsen. Nach psychischer Krise 1933 brach er eine Schneiderlehre ab und übernahm Aushilfsarbeiten. In der Nazi-Zeit wurde er verschleppt und zwangssterilisiert. Anschließend lebte er bei seiner Familie. Nach dem Tod der älteren Schwester 1977 kam er in ein Pflegeheim.

Die Motive der durchgehend farbigen Zeichnungen wiederholen sich, christliche und Märchen-Szenen, Heilige, historische Persönlichkeiten. Mehr als jeden anderen, wohl über 800 Mal, hat Wagemann Adolf Hitler dargestellt, und zwar als väterliches Idol. Eine Verbindung zu seinem eigenen Schicksal stellte er offenbar nicht her. Die verzerrte Zeichnung, die den „Führer“ vielfach geradezu debil erscheinen lässt, und die fehlerhafte Orthographie der Aufschriften („Attolf“) konterkarieren allerdings ungewollt die Darstellungsabsicht.

Küppers kümmerte sich bis zuletzt um Wagemann und sein zeichnerisches Œuvre. 1987 schenkte er der Sammlung Prinzhorn neun Blätter aus den Jahren 1985 und 1986.  

 

Flucht in die Wolken 

Die Eltern von Sonja Gerstner (1952-1971) gehörten zur DDR-Elite. Sie war Klassenbeste und künstlerisch begabt. Mit 16 erlitt sie unvermutet eine psychische Krise, die in den folgenden zwei Jahren zu mehreren Psychiatrieaufenthalten führte. Auf geschlossenen Stationen wurde der komplette Apparat damaliger Behandlung eingesetzt, ganz ähnlich dem im Westen vor der Psychiatriereform: Isolierung im Bunker, Spritzen, Elektro- und Insulinschocks. Mit ihrer Umwelt kam Gerstner immer schlechter zurecht, sackte in der Schule ab, flog durch die Schauspielprüfung, litt unter der Ehekrise der Eltern. Dagegen schrieb sie Tagebücher, Songs und Gedichte, und sie malte, beeindruckende Bilder einer phantasiereichen Innenwelt. 1970 endgültig entlassen zog sie in eine eigene Wohnung. Aber sie fühlte sich ungeliebt und allein gelassen und nahm sich 1971 das Leben.

Die Eltern hatten schon früh mit den Ärzten über Behandlungsmethoden gestritten, verzweifelt über ihre Ohnmacht. Nach dem Tod der Tochter schrieb die Mutter, Sibylle Gerstner, unter Pseudonym ein Buch über deren Leben, das mit farbigen Reproduktionen vieler Bilder Sonjas unter dem Titel „Flucht in die Wolken“ erschien, 1981 in der DDR, 1982 in der BRD. Es wurde schnell ein Bestseller. Einige Ausstellungen der Bilder und Dokumente folgten. 2007 überließ die Mutter deren größten Teil der Sammlung Prinzhorn als Dauerleihgabe.  

 

Geheime Codes 

Gudrun Bierski (1925-2006) wuchs in Mährisch-Ostrau auf. Ein Kunststudium, 1944 in Wien begonnen, konnte sie, nach Flucht und Übersiedlung, erst 1947-51 an der Karlsruher Akademie abschließen. Damals bereits fielen irrationale Schuldgefühle auf. Aufsehen erregte das Überreichen einer Blume an einen Pfarrer während der Predigt. Mit ihren künstlerischen Werken hatte Bierski keinen Erfolg. 1955 zog sie nach Frankfurt am Main, um als technische Zeichnerin zu arbeiten. 1969 zwang sie eine nervliche Krise in die Unselbständigkeit. Bei Eltern und Schwestern widmete sie sich mehr denn je ihrer Kunst.

Neben Gemälden, für die sie Pappmaché-Rahmen fertigte, entstanden Teppiche, deren Vielfarbigkeit selbst erdachten Codes folgt. Bierski benahm sich zunehmend exzentrisch, badete einmal gar bekleidet im Main. In ihre Sprache kamen formelhafte Floskeln. Seit 1990 malte sie kleine tachistische Gemälde und nähte für diese und andere Werke Stoffhüllen. Da Ende der 90er ihre Wohnung zuwucherte und die Amtsärztin Schizophrenie diagnostizierte, wurde eine Betreuerin eingesetzt. In den letzten Jahren notierte Bierski Substantive und Reihen einfacher Zahlen in Kladden und Heften. Auch in Romane schrieb sie Wörter, oder sie überarbeitete jeweils eine Seite mit Schraffuren. Erst nach ihrem Tod entdeckten die Erben den Umfang des Œuvres. Das meiste überließen sie der Sammlung Prinzhorn.

 

Päckchen für die Nachwelt: Chronik der Einsamkeit 

Irgendwann in seinem Leben verschrieb sich der schwäbische Gartenbauinspektor Friedrich Boss (1898-1977) einer privaten Gedächtnisarbeit. Tausende von Blättern füllte er mit täglichen Aufzeichnungen, Notizen, Listen und aufgeklebten Ausschnitten aus Zeitungen; in gewissem Rhythmus bündelte Boss die Papiere, wickelte sie in braunes oder blaues Packpapier, verschnürte alles, siegelte den Knoten mit rotem Lack und notierte die Daten des Entstehungszeitraumes.

Innerhalb von etwa 20 Jahren stapelte er über 200 Päckchen aufeinander, manche auch zu dicken Paketen verschnürt. Adressaten haben die Aufzeichnungen nicht. Sie tragen sorgsam ein postalisches Kleid und können doch nicht fort. Aus einer privaten Katastrophe heraus verschloss sich Friedrich Boss. Ihm blieb die Textarbeit, die er versiegelte wie eine Flaschenpost – und aufschichtete zu einer Chronik der Einsamkeit. 

Das in den 50er Jahren begonnene Werk ihres Onkels schenkte Irmgard Lang im Jahr 2003. 

 

Kommunikation in Ordnern 

Das maßlose Werk des Kommunikationsstudenten an Hochschule der Künste Berlin, Harald Bender (geb. 1950), entstand im Berlin der 1990er Jahre. Es schlingert über mehrere Ebenen des Sammelns und Gestaltens: das Aufheben alltäglicher Dinge, wie Pizzaschachtel und Wollmütze, das Montieren von Assemblagen aus Fundobjekten und – auf der Welle der Bilderflut – das Anhäufen meist graphischer Aufzeichnungen in großen Bildformaten und zahllosen DIN-A Bogen. 

Knapp 200 Aktenordner füllte Bender mit den einzeln in Plastikhüllen geschobenen Papieren. In rasendem Tempo hatte er die Blätter überschrieben und übermalt, mit Farbfeldern und naturwissenschaftlichen, mathematischen und physikalischen Graphismen. Undurchschaubar sind seine Zeichen von Technik und Wissenschaft, aberwitzig wie der technologische Fortschritt überhaupt. Bender stellt uns dies vor Augen mitsamt dem Fleiß, den Systemen und der Maßlosigkeit der scientific community. In einer seriellen Installation hält er die übermächtige Welt in Ordnern und sich vom Leibe. 

Schenkung des Künstlers im Jahr 2000.

 

Heiligenmaler 

Mit rheinischem Temperament war Peter Meyer (1871 od.1872 – 1930) ein Unterhaltungskünstler. Doch der lebenslustige gelernte Kellner scheiterte bald. Seine eigene Wirtschaft in Münster ging in Konkurs, die Ehefrau starb nach sieben kaum glücklichen Jahren und von drei Kindern überlebte nur eines.

Als Geschäftsführer eines Kölner Hotels brach Meyer 1908 zusammen. Er wurde entlassen, sah sich aber nun als Künstler und mit Reichtum gesegnet. Als er 1911 in „großer Erregung“ Verwandte mit der Pistole bedrohte, brachte man ihn in die Anstalt Eickelborn bei Lippstadt.

Hier schrieb der „Dichterfürst“ Verse von Liebe, Siegen und Tod und begann zu zeichnen. „Heiligenmaler“ nannte er sich seit 1918, als er gelobte keusch wie ein Mönch zu leben, nicht zu rauchen, zu trinken. Er suchte seine Sündenschuld zu begleichen. Gern gab er daher seine Bilder 1920 dem Heidelberger Museum, hörte aber fortan auf zu malen.

Meyer zählt unter dem Namen „Moog“ zu Prinzhorns „Meistern“. Sein Oeuvre ergänzen seit 1993 zwei Dauerleihgaben, ausfindig gemacht 1989 in Eickelborn. Wollte er selbst sie einst nicht hergeben?

Eine aufregende mittelalterliche Nachschöpfung ist die aus Abfallmaterialien montierte Prachthandschrift, ein Missale mit Abschnitten aus der römisch-katholischen Messe. Meyer malte das liturgische Buch mit Ambition und Andacht in geradezu expressiver Farbgebung aus, überzog es teppichgleich mit kalligraphischer Schrift, Ornamenten und Zierleisten, in denen sich Säulen, Häuserzeilen, Türme und Arkaden tummeln. „Sankta Anna“ grüßt am Beginn; am Ende mahnt der Gekreuzigte den Schauenden: „Rete die Seele“. 

 

Den Männern zum Fraß 

Das Leben der selbstbewussten, rebellischen Expressionistin Elfriede Lohse-Wächtler (1889-1940) ist von Krisen und Katastrophen gezeichnet.

Dem Vater zum Trotz bildet sich die Dresdner Kunstgewerbeschülerin künstlerisch weiter, lebt und malt im Kreis sozialkritischer Künstler, wie Felixmüller, Dix und Griebel. 1925 zieht sie nach Hamburg, wo ihr Mann, Kurt Lohse, bald mit einer Anderen Kinder aufzieht, obschon Elfriede L.-W. mehrmals hat abtreiben müssen. Tief verletzt, ohne Geld und künstlerische Anerkennung, fühlt sie sich verfolgt, sodass Freunde sie in die Anstalt Friedrichsberg bringen. In den zwei Monaten dort fertigt sie die „Friedrichsberger Köpfe“, die sie erfolgreich ausstellt. Doch die Not bleibt. Die Künstlerin lebt, liebt und hungert mit den Menschen des Milieus und malt auf unbezahlten Leinwänden ihre eruptivsten Arbeiten, bis sie die Wohnung verliert und im Bahnhof schläft.

Tödlich erschöpft kehrt Lohse-Wächtler 1931 ins Elternhaus zurück. Der Vater weist sie 1932 in Arnsdorf ein, und bald ist sie geschieden, entmündigt, zwangssterilisiert. Ihre Zeichnungen sind Dokumentationen aus dem Inneren der Anstalt. „Ich gehe zugrunde“, schreibt sie den Eltern. Fünf trostlos-artige Glückwunschkarten in NS-Stil zeigen die psychische Vernichtung der Künstlerin; fünf Jahre später verordnen Ärzte ihr den NS-Gnadentod in den Gaskammern von Pirna-Sonnenstein. 

Dank dreier Dauerleihgaben aus Privatbesitz können wir die frühe, mittlere und späte Werkphase dokumentieren. Zu sehen ist hier die virtuose bitter-ironische Tuschezeichnung: Die unter dem Tisch hockende Künstlerin tischt den Herren — Repräsentanten der Macht und des Geldes — ihr Haupt auf. 

 

Sanitätspolizei 

1898 wird Franz Karl Bühler (1864-1940) in die Illenau überführt. Zeichnen wird lebenswichtig. In Skizzen, Studien, ausgearbeiteten Entwürfen schult er sich im figürlichen Darstellen. Als Modelle dienen Patienten, die er wie ein Chronist beim Rasieren, Musizieren und Essen beobachtet.

Ferner will er eine Typologie von Patienten erstellen. Mit spitzem Stift registriert er steckbriefartig Physiognomien und Lebensdaten der Insassen. Das System hat er den Ärzten abgeschaut und, wie sie, protokolliert er kühl: „arbeitsam“, „unreinlich“, „zu wenig Sprachmanier“, „bösartige Redensartien“. Der Ohnmächtige übernimmt Verfahrensweisen der Macht. „D.R. Bühler“ und „Sanitätspolizei“ zeichnet er seine „Rechtwohlfahrtarbeiten“, die er fürs Ministerium anfertigt. Nach Emmendingen 1900 überführt, gibt Bühler die „Anstalt Inspektion“ bald auf; die Bewegungsstudien von jungen Patienten im Bett wirken ungewöhnlich gelöst, er öffnet sich neuen Aufgaben. 

Der preisgekrönte Offenburger Kunstschmied war 1893 an die Kunsthandwerkerschule Straßburg berufen, doch wegen Konflikten schon 1897 entlassen worden. Er hatte die Fachgrenzen ignoriert und sich als autonomer Künstler verhalten.

Bühler zieht umher, fühlt sich beobachtet, bedroht; er hat Visionen: „Köpfe, die ihm ins Auge schauten, und ein Frauenkopf der sich dann eng mit ihm verband + in ihm aufging.“ Im Angstanfall durchschwimmt er im Winter einen Hamburger Kanal.

Einweisungen folgen. Bühler klagt über Vergiftungsängste, Halluzinationen, das Lösen der Knochen und Zersetzen seines Blutes. Er zeichnet, schreibt und möchte Violine spielen. Seit 1904 malt er mit Ölkreide: Schmiedeeisenernes, Phantasmen, Szenen aus Zeitgeschichte und Anstalt. Bühler arbeitet experimentell, expressiv, vertraut mit der Moderne etwa bis 1905.

Selbstbilder entstehen, ungetröstet, auch in sexueller Not; ihr Gestus radikalisiert sich. Hans Prinzhorn, der den Maler um 1920 aufsucht, sieht in den frühen Selbstbildnissen die Intensität van Goghs.

Im Ersten Weltkrieg malt der Hungernde Würste, verborgen im Satzspiegel einer Zeitung. Über die Zeit von 1920 bis 1940 wissen wir nichts.

Franz Karl Bühler wird am 6.4.1940 in die Gaskammer von Grafeneck transportiert.

 

Das Konvolut von rund 30 Zeichnungen aus der Illenau (1898-1900) und dem ersten Jahr in Emmendingen (seit 1900) ist 1989 geschenkt worden. 

 

Zeit- und Narbenschriften des Landstreichers 

Plötzlich schrie Gustav Röhrig (1858-1932) gegen das Schweigegebot im Arbeitshaus an, gegen Strafen mit jahrelanger Haft, Monotonie und Angst, kurz den Überlebenskampf zwischen Landstraße und Korrektionshaus. Man wies den 36-jährigen Landstreicher in die Anstalt Bremen-Ellen. Dort hatte er Glück: eine Anstalt im großzügigen Koloniestil, gewährende Ärzte und externe "Pflege" bei Bauern.

Hier ist er Gott, Dichter, Friedenstifter und Hauptmann. Mit dem Blechnapf auf dem Kopf singt und exerziert er. Seine Zeichnungen lenken auf  glückliche Tage im sächsischen Schützen-Regiment Nr. 108 zu Dresden: Auf zerknittertem Packpapier gibt sich Röhrig als Hauptmann, Bereiter, Turner und Circuskünstler. Fast identische Lockenköpfe und wenig standfeste, zierliche Leiber kontrastieren mit den gepanzerten Brustkörben. Frauenköpfe sehen aus wie Männerköpfe. An die lockigen Zeugnisse insgeheimer Männerliebe sind oft Illustrationen, Kalenderblätter oder Lagen Illustrierter Zeitschriften geklebt. Linien und farbige Papierstreifen deuten eine grafische Gestaltung an. Die Absicht wird deutlich: Der Vagabund knüpft an den gescheiterten Berufswunsch des Knaben an, Buchbinder in der Bücherstadt Leipzig zu werden. Mit den montierten Fragmenten von zusammengerafften Druckschriften zeigt der Landstreicher, dass er an der bürgerlichen Welt teilhaben möchte.

Rätselhafte Häkchen überziehen die Figuren. Deuten sie Stofflichkeit an oder sind es Würdeformeln, angelehnt an das Kraquelee von Gemälden oder die Ornamentflut vom Ende des 19. Jahrhunderts? Oder referieren sie – parallel zu den Knitterspuren im Papier – als Narbenschrift die unzähligen Verletzungen des pauperisierten Kindes, scheiternden Knaben und misshandelten Landstreichers?

 

Aus Bremen-Ellen erhielt die Sammlung Prinzhorn zur Erweiterung der eigenen Bestände ein Konvolut von 20 Zeichnungen geschenkt. 

 

Der Vogelflüsterer 

Der Odenwälder Bäcker und Schlosser Johann Knopf (1866-1910) wurde nach einer unglücklichen Ehe seit 1885 mehrfach wegen Bettelns und Körperverletzung inhaftiert. 1903 stach er sich „durch schwere Schikane, durch die Marter“ mit einem Taschenmesser in den Leib und kam ins Krankenhaus nach Mannheim. Von hier überstellte man ihn wenige Tage später der Heidelberger Psychiatrie, da er von religiösen Visionen und Verfolgung seiner Person berichtete. Er sei „die Auferstehung“, niemand habe soviel gelitten wie er, nicht einmal Christus. Eine besondere Nähe fühlte er zu Tieren; die Stimmen der Vögel glaubte er verstehen zu können.

Ende des Jahres kam er nach Emmendingen, 1905 nach Wiesloch. Hier starb er bereits 1910.

Seit 1906 zeichnete und schrieb Knopf „mit heiligem Eifer“ auf jedes Stück Papier, dessen er habhaft wurde. Lob seiner Werke lehnte er ab mit der Begründung, es komme nur darauf an, dass alles „richtig“ sei.

Briefe an den Ehemann 

Als Emma Hauck (1878-1920) in die Psychiatrische Klinik Heidelberg eingeliefert wurde, war sie viereinhalb Jahre verheiratet und Mutter von zwei kleinen Töchtern. Vor der Heirat hatte sie im Modewarengeschäft der Mutter mitgearbeitet.

Im Laufe ihrer Ehe wurde sie "scheu, zurückhaltend, misstrauisch, widerspenstig u. störrisch". Sie fühlte sich "ausgesaugt", "vernachlässigte Haushalt und Kleidung, kümmerte sich weniger um ihre Kinder, kam körperlich herunter". Im Dezember 1908 klagte sie, schlecht sprechen zu können, da sie "etwas im Hals habe". Sie äußerte den Wunsch, allein zu leben, klagte ihren Mann an, ihr über einen Kuss seine Krankheiten übertragen zu haben, und fürchtete vergiftetes Essen.

Nach wenigen Wochen wurde Hauck von ihrer Mutter abgeholt, doch mit der Rückkehr in die Familie verschlechterte sich ihr Zustand sofort. Schon im Mai 1909 lieferte man sie erneut in Heidelberg ein. Für unheilbar erklärt, kam sie im August in die Anstalt Wiesloch. Dort starb sie elf Jahre später. 

Weitere ‚Briefe’ von Emma Hauck fanden sich 1986 in ihrer Heidelberger Krankenakte.

 

24. Mai - 9. September 2007

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Sammlung Prinzhorn
Psychiatrische Universitätsklinik Heidelberg
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