Konzeptualisiert : Oliver Breitenstein und Pascal Unbehaun theoretisieren die Kunst 

Seit über zwei Jahrzehnten nimmt die französische Philosophie Invasionen in die Kunst des deutschsprachigen Raumes vor und erzeugt dort mehrere heftige Flutwellen, u.a. durch Werke, die sich mit dem Begriff der Simulation beschäftigen. Die letzte documenta in Kassel zeigte bereits Beispiele konzeptioneller Kunst-als-Dokumentation, zum Beispiel von Fareed Armaly und Rashid Masharawi. Zeitgleich zur documenta und in ihrer Umgebung, aber nicht direkt auf ihrem Areal, präsentierte sich Thomas Hirschhorn mit einem Kunst-Büro und Inszenierungen neuer, durch einen Künstler geschaffener Realität. Bei der diesjährigen documenta XII wird der chinesische Künstler Ai Wei Wei 1001 Chinesen nach Kassel reisen lassen, um die Filme und Fotografien ihrer Reise als Kunst auszustellen. Während der documenta sollen sie sich eine Woche lang in Kassel touristisch bewegen, dann ihre Arbeiten bei Ai Wei Wei abliefern. 

Die documenta zeigt, was zuvor in eher versteckten Räumen des zeitgenössischen Lebens, in kleinen Städten, kleinen Kunsthallen und Cinderella-Galerien (Galerien, die sich temporär in freistehenden Räumen einrichten) das kunsttheoretische Bewusstsein geformt und umgeformt hat. Eines dieser fast unsichtbaren 'Ladungszentren' kann man in Münster ausfindig machen. Der frei flottierende Knotenpunkt nennt sich "Rhizom - Büro für Kunstvermittlung" und wird von Oliver Breitenstein betrieben. Der Name "Rhizom" spricht für sich: Unsichtbar anwachsen und Wesentliches wesentlich ändern. Aber das  Büro wird nicht von aggressiven, säurezüngigen Burschen betrieben, bissig wie Krebszellen. Der Inhaber des Rhizom-Büros ist der freundliche Oliver Breitenstein, der an der Kunstakademie in Enschede Kunst studierte und an der Universität Bochum noch einige Jahre Philosophie. Breitenstein ist jetzt Freiberufler, der seine Stadt Münster, aber auch Bern u.a. mit Aktionen, Happenings und Veranstaltungen seines Rhizom-Büros verunsichert. Ai Wei Weis monumentales Projekt hat Breitenstein im Wesentlichen und im Kleinen schon Anfang 2006 vorweggenommen: Das Delegieren der Betrachtung. Seit einiger Zeit und noch aktuell tritt der Münsteraner Rhizom-Inhaber mit dem auch in der Tagespresse wahrgenommenen Projekt "Ich schaue Kunst auch für Sie" in Erscheinung. In diesem Rahmen inszeniert er sich als eine Art Kunstberater und Kunst-Servicemanager, der für Kunstinteressierte, die zu ihrem eigenen Bedauern für Kunstbetrachtungen in Museen oder Galerien keine Zeit haben, ebendiese Aufgabe der Kunstbetrachtung übernimmt. Klingt irgendwie ironisch? Hm....Ob die Kunstbetrachtung nicht allein aus stilistischen Gründen vielleicht nicht delegiert werden kann, muss der potenzielle Auftraggeber an Oliver Breitensteins Vorarbeiten püfen, so z.B. Kopfkino (2005), Labor (2005), "Ich schaue Kunst auch für Sie" (2006) und "Aristoteles muss chillen" (2007, Fotos von Ralf Emmerich). Auch die Rhizom-Webseite bietet eine Fülle von Artikeln über kleine Kunstausstellungen und Rhizom-Ereignisse. Das Cinderella-Büro wechselt tatsächlich häufig seinen Ort, da es von ungenutztem Büro zu ungenutztem Büro zieht. Man sieht hier vor sich die lange Tradition des Happenings, not dead and not forgotten. 

Auch Pascal Unbehaun steht in dieser Tradition. Seine aufmerksamen Beobachtungen zur Entwicklung der documenta-Kunst haben wir oben zusammengefasst. Pascal Unbehaun repräsentiert Konzeptkunst in sehr entschiedener Form. Er kann zahlreiche Ausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen nachweisen, spricht aber nie darüber. Man findet in seinem Oeuvre auch Gemälde und farbenfrohe Installationen wie "Minimal TV". Zur Zeit inszeniert er sich in der StuArt Online-Gallery von Saatchi (UK), um aufgrund seines Portfolios für einen TV-Report in England ausgewählt zu werden. So gesehen, wirkt seine Kunst fast traditionalistisch? Aber natürlich täuscht dieser Eindruck. Es handelt sich lediglich um einen Präsentationsrahmen, der von Unbehaun bespielt, aber nicht auktorial entworfen wird. 

In seinen Projekten hingegen diskutiert er u.a. die Dokumentationskunst der letzten documenta-Ausstellungen, also Kunst auch als Theorie und in ihrem Verhältnis zur Realität. Nach Unbehaun sind viele der Kunstwerke nicht nur real schwierig von der Realität zu unterscheiden, sondern mitunter einfach Realität an sich. So können sie eine provozierende Art und Weise der Kunst sein, sich der Realität anzunähern. 

Künstler wie Hirschhorn geben andererseits nach Unbehaun die Kunst vollkommen auf, indem sie die Rollen von Realität und Kunst komplett vertauschen, z.B. durch die Substitution von realen Objekten mit gleichen (ebenfalls Imbissbuden o.ä.), die von einem Künstler erstellt und verwaltet wurden, aber ebenso einfach, funktional oder schlecht sind wie die Gegenstände des 'wirklichen Lebens'. 

Unbehaun selbst inszenierte 2006 zwei verschiedene Projekte, die als eine Art mehr oder weniger bewusster Antwort auf diese Werke auf der documenta oder um das Ausstellungsereignis herum verstanden werden können. 

Das erste Projekt nannte sich "Vertical City" und bestand aus einer Installation und Performance. Das zweite Projekt trug den Namen "das Erhabene und die Postmoderne", durchgeführt als Workshop  im Rhizom - Büro für Kunstvermittlung in Münster. 

"Vertical City" besteht aus einer größeren Anzahl beschrifteter Platten in den reduzierten Farbtönen schwarz und weiß. An der Wand bilden sie keine gerade Linie, sondern wechseln in ihrer Höhe, vergleichbar mit Noten in einer Partitur.  

Vergleichbar mit der Art und Weise, wie während des Lesens die Perspektive und die Gedanken wechseln, ändert sich die Gegebenheitsweise und ästhetische Form des Textes, die Tafeln drängen Betrachter oder Betrachterin Gedanken an die Schiefertafeln von Joseph Beuys auf (Ludwig Museum Köln). Auch diese lassen eine Art Atmosphäre vorgeformter Gedankengebäude entstehen. Unbehaun hat gerade diesen Aspekt in seinem zweiten Projekt zum Thema gemacht.

In "Vertical City" war es jedoch nicht das Einzige, was sich dem Kunstsuchenden bot. Der zweite Teil des Projektes bestand aus einem Raum, in dem der Künstler einige Bücher zur Verfügung stellte, die er selbst zuvor gelesen hatte, dazu einen Tisch mit Stühlen und andere Utensilien, die den Gästen von Rhizom eindeutig zu verstehen gaben, dass man sich setzen und lesen durfte. Ziel war sogar, dass man nicht nur liest, sondern den gesamten Unbehaun'schen Ansatz zur Kunst reflektierte. Tatsächlich vermittelte die Installation offenbar den richtigen Eindruck und man setzt sich zur gemeinsamen Überlegung hin. 

Unbehauns Installationskunst ist somit offensichtlich nicht in erschreckender Weise mit Erhabenem überlagert. Stattdessen setzt Unbehaun Gedanken über Kunst innerhalb der Kunst ein, zeigt quasi die Kunstdiskussion und deren Prinzip selbst. Strenggenommen stellte das Projekt Gedanken aus - die des Künstlers und der Besucherinnen und Besucher - , die symbolisch Realität gewinnen. Obwohl ein Kunstobjekt, wie Kritiker unerbittlich erwähnen, wenn sie ihren Lesern etwas zum Mitnehmen anbieten möchten, sind die Texte und Objekte nicht unberührbar. Dennoch haben sie ein 'erhabenes', sublimes Resultat, indem sie die Wahrnehmung von Augenblicken des Denkens und die Ideen des Moments erhellen.

In konsequenter Weiterentwicklung war das nächste Projekt ein reiner Workshop mit Dokumentation. Der Workshop lud gleich, ohne Vermittlung durch ausgestellte Objekte, zum reinen Theorievergnügen ein. Die Beschäftigung mit dem Erhabenen und der Postmoderne wurde aufgezeichnet und fotografiert. Anschließend dokumentierte Unbehaun mit einer Ausstellung im Rhizom-Büro das Event, in der Präsentationen, Notizen, eine Videoaufzeichnung und zahlreiche Polaroids verwendet wurden.

Die Grundidee des Workshops war die philoophische Überlegung und das ästhetische Ziel, nicht nichts als Ereignis zu betrachten, sondern ganz im Gegenteil ein Ereignis in seinem spezifischen Moment zu erfassen: Exakt der unberechenbare Moment, der eine sehr kurze Situation bestimmt. Es erscheint ganz natürlich, wenn man an die Erfahrung mit Gedanken denkt, die Vertical City evozierte. Offensichtlich trifft die Unbehaun'sche Konzeptkunst hier auch einen wichtigen philosophischen Kern, insofern sie quasi den gedanklichen Gehalt in Sinneswahrnehmungen herausstellt. Der Künstler selbst spricht von einer Verklärung der Gedanken. Statt mit Arthur Dantos entsprechenden Theorien lässt sich die Grundidee aber auch mit der guten, alten phänomenalistischen Rekonstruktion der Realität in Verbindung bringen (mit der Philosophie Nelson Goodmans vor dessen kunstästhetischen Überlegungen z.B.). Also, insgesamt, wieder eine moderne Inszenierung des Sublimen. 

Mit einem nahezu gefälligem Artefakt hat Unbehaun in der Hamburger Ausstellung "Pflanzendialoge" eine andere Art impliziten, selbstkritischen Diskurs zur theoretischen Reflexion über die Annäherung der Kunst an die Realität inszeniert. Im Fernbahnhof Harburg in der Hannoverschen Straße in Hamburg konnte man zwei Poster sehen, die Computersimulationen natürlicher Wachstumsprozesse darstellen. Auch der dazugehörige Text, mehr oder weniger in Abwandlung geschrieben von realen Computerspezialisten,  wurde von Unbehaun als Kunst vorgeführt. Das Projekt der Technologen verfolgt ebenfalls das Ziel, mit artifiziellen Formen die Realität zu wiederholen, wenn auch auf vollständig andere, eben technische Art und Weise. Die Informationswissenschaftler versuchen dialogische Strukturen und Zufallsprinzipien zu implementieren, um eine natürliche Umgebung für eine genetische und organische Basis automatisierter Handlungen zu schaffen. Indem dieses Projekt von Unbehaun als Kunst präsentiert wird, sollte es einen dramatischen Aspekt erhalten, auch wenn es für sich nur ein kurzer Anriss typischer Probleme der Neurobiologie thematisiert. 

Vergleicht man es schließlich ernsthaft mit Kunst und der Rekonstruktion von Realität durch ebendiese, könnte man, etwas spitzzüngig, das wissenschaftliche Werk als "einfach besser" bezeichnen: es ist mehr auf sein Ziel konzentriert, technisch ausgezeichnet und hochgradig wissensbasiert. Wissenschaftler stellen annähernd reale Wesen her, während die Kunst nach nichts sucht. Aber...die Kunst hat diese Lektion als Mimesis bereits gelernt und seit Jahren hinter sich gelassen. Wie der verklärende Aspekt in seiner Analyse offenlegt, ist eine perfekte Simulation eine perfekte Simulation eine perfekte Simulation....

Selbst wenn sie nützlich ist, hat sie doch primär den Status einer Sekundärinformation, die nur dazu beiträgt, die Realität besser zu verstehen. Man wird weiterhin das konkrete Gegenüber ansehen müssen. Dieser Sachverhalt genau ist es, den Kunstwerke herausheben können, anders als die naturwissenschaftlich angewandte Informatik, selbst dann, wenn beide von Zeit zu Zeit aufeinander zurückgreifen.

 

Dr. Ulrike Ritter

 

Aktuelle Projekte von Oliver Breitenstein: 
Cuba-Culture Münster
Oliver Breitenstein & Helmut Buntjer, 1. September 2007, 22.00 Uhr.
„Deutschland sucht den Kunstkenner“ a marathon with final
sculpture quiz show – start: 4 pm.
cuba-cultur
Kubahaus Kultur
Black Box
Achtermannstr.12 (Hinterhof)
Münster
Weitere Informationen über den Künstler:
http://www.arts-on.com/XX_29.04.06.pdf
http://www.arts-on.com/wn_28.04.06.pdf
http://www.arts-on.com/mz_19.01.07.pdf
 
Webseite des Künstlers:
www.büro-für-kunstvermittlung.de
 
Aktuelle Projekte von Pascal Unbehaun:
Kunsthaus Hamburg:
"Planungsbüro Pflanzendialoge" (Titel liegt noch
nicht fest)
Datum VORLÄUFIG 3.Sept-Ende Sept.
incl. Ende Sept.
eine Gemeinschafts-Installation der Gruppe FLANZER (sic!)
in der Kapelle Mengestr./Hamburg
 
Webseite des Künstlers:
http://www.d498.de/
 
Bericht: Dr. Ulrike Ritter
(c) Fotos: Unbehaun / Breitenstein / Emmerich